In den Sternen weit über der Gewandhausdecke

 

Dame Gillian Weir spielte Messiaen

Daß das deutsche Publikum mit Messiaens Musik Probleme hätte, ist eines jener Verdikte, die sich jahrzehntelang halten, ohne daß sie jemals hinterfragt werden. Der bittekalte November '98 in Leipzig aber widerlegte diese These nun ein für allemal. Der schwere Fünfstünder »Saint-François d'Assise« im Opernhaus hat weit über Sachsens Grenzen hinaus Interessenten angezogen. Beim Messiaen-Abend im »Lindenfels« mit Konzert und Filmporträt wurden die Stühle knapp.

Da konnte das Gewandhaus nicht zurückstehen und wuchtete seinen eigenen Messiaen auf die Bühne: Im Orgelkonzert am 21. November erklangen die »Méditations sur le Mystère de la Sainte Trinité«, der größte und komplizierteste Zyklus des Franzosen. Die Besetzung versprach Authentizität. Die aus Neuseeland stammende und in England lebende Gillian Weir hat sich als Messiaen-Interpretin weltweit einen Namen gemacht. In alter französischer Orgelschulen-Manier spielte sie das Riesenwerk souverän ohne Registranten — gewöhnlich brauchen Interpreten zwei dafür.

Ungewohnt auch der Ort, an dem Weir spielte. Die Interpretin thronte nicht auf der Orgelempore, sondern saß am Spieltisch mitten auf dem Konzertpodium im fast völligen Dunkel. Das garantierte ein Höchstmaß an Inspiration und Klangkontrolle. Denn so durchdacht Messiaens Orgelwerke auch sind, letztendlich gleichen sie einem Meer an Farben und Sinneneindrücken. Sicher hat mancher seine Probleme mit dem tiefgründigen Katholizismus, wie er im »Franziskus« in Reinform und in den Orgelzyklen in verschlüsselter Weise zu finden ist. Doch seine Musik bietet etwas, was heute selten geworden ist: mystische Tiefe, Klangrausch, eine Beschreibung der Ewigkeit.

Das Wort »Meditation« paßt da ideal: In Messiaens Tönen kann man sich verlieren, wie sich im 18. Jahrhundert die Gläubigen in Mühlhausen, Arnstadt und gelegentlich auch in Leipzig in Bachs Orgelspiel versenken konnten. Für beide ist der provozierte Sinnenrausch kein Selbstzweck. Wie der spätte, spekulative Bach selbst heute nicht 100prozentig entschlüsselt werden kann, so vergrub auch Messiaen in seiner Musik tiefe Religiosität: im Programm (für die »Méditations« verzichtete der Komponist gar auf einengende Satzüberschriften), in der Zahlensymbolik, im kleinsten Detail. Für den Interpreten stellt dies höchste Anforderungen, muß er doch einen schier unlöslichen Spagat zwischen Experimentierfreudigkeit und strenger Detailschärfe (etwa in den unumkehrbaren Rhythmen) vollführen.

Das kann Gillian Weir. Ihre Sicht auf Messiaen war in Leipzig gerade deshalb interessant, weil die Gewandhausorgel eben nicht von Cavaillé-Coll gebaut wurde. Da klang die bekannte Musik plötzlich neu, gewann phänomenale Ausdruckskraft. Die Künstlerin schien zu zaubern, probierte die vielfältigen Gestaltungmöglichkeiten des Instruments kindlich verspielt aus. Zwar hatte sie ihre Einstellungen gewisenhaft vorprogrammiert, dennoch wirkte keine Sekunde im knapp 80minütigen Zyklus altbacken und konstruiert. Vielmehr ließ ihre Interpretation erahnen, daß die neun Teile von Messiaens tiefstem Zyklus in Wirklichkeit notierte Improvisationen sind, so durchdacht und aufeinander bezogen sie auch sein mögen.

Von Gillian Weirs Präzision zu schwärmen, heiße Eulen nach Athen zu tragen: Mit an Perfektion grenzender Sicherheit spielte sie die schnellen Vogelrufe, tastete sich durch die Unzahl nahezu unspielbarer Rhythmem. Dabei ließ sie in keinem Moment außer Zweifel, daß all die technischen Finessen nur Beiwerk sind für den eigentlichen Gehalt des Zyklus. Im letzten Bild beispielsweise, in dem Messiaen alles schon Gesagte zusammenführt: Gillian Weir ließ die Orgel im dicht gedrängten Komplex erbraussen, fixierte einen Kulminationspunkt, der irgendwo in den Sternen weit über der Gewandhausdecke lag, und endete schließlich verklärt im leisesten Pianissimo. Da bedarf es keiner Worte mehr, und fast gerät man in Gefahr, von diesem ekstatisch-sinnlichen Katholizismus bekehrt zu werden.

Das Konzert war eine Revernz für Olivier Messiaen von einer, die ihn genau kennt. Gillian Weirs Botschaft konnte man in jenem Konzert kaum überhören: Messiaens Größe war es, die extrem konstruierte Struktur seiner Werke geschickt verschleiern zu können, so daß selbst mit Zeitgenössischem unerfahrene Konzertgänger seine Musik als Klangereignis begreifen. Und das funktionierte an jenem kalten Novemberabend im Gewandhaus einwandfrei.

Hagen Kunze, Herbst 1999 Gewandhaus Magazin, Leipzig

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