Neuer Wert für die Orgel

Als Interpretin mit Superlativen bedacht: Gillian Weir spielt im Dom

Vorsicht bei der Vergabe von Superlativen ist immer geboten. In diesem Fall allerdings dürften sie kaum ausreichen, um all dem gerecht zu werden, was die englische Organistin Gillian Weir bei ihrem Orgelkonzert im Speyerer Dom an regelrechten Offenbarungen zu präsentieren hatte. Die bedeutendsten Organisten aus aller Welt haben hier schon gastiert und für so manche Sternstunde gesorgt. Und zweifelsfrei gehört von nun an auch Gillian Weirs Name dazu, wenn es gilt, die außergewöhnlichen Konzertereignisse aufzuzählen.

Uber alle Erwartungen hinaus belegte sie mit ihrem Konzert den ihr vorausgeeilten Ruf, der darin gipfelt, daß die internationale Kritik in erster Linie es ihr und ihrem Charisma zutraut, dem Thema „Orgel” innerhalb des internationalen Konzertlebens zu einer neuen Wertstellung zu verhelfen.

Eine Begründung dafür lieferte bei ihrem Speyerer Programm die geradezu dokumentarische Art, wie sie Olivier Messiaens „Apparition de l'Èglise Eternelle” sichtlich als eine Offenbarung an die Musikwelt zu offerieren wußte. In unaufhaltsam natürlicher Entwicklung erstand da unter ihren Händen ein stetig nach oben wachsender Klang, der den Raum, die Welt, das Dasein auszufüllen schien und den Hörer unwiderstehlich in einen Zustand der Entrückung versetzte, in einer so noch kaum gehörten und empfundenen Weise der Ent-Zeitlichung.

Fast rätselhaft verfügt Gillian Weir doch über ihre stupende Technik hinaus über enorme Fähigkeiten, all dem, was notiert und auf Papier festgehalten ist, Inhalt zu verleihen und eine Botschaft wie die Messiaens zu transzendieren, mit einem schlafwandlerischen Gespür fur Spannungsverläufe und sinnliche Klangwirkungen, womit sie der Scherpf-Orgel im Dom auch bei den übrigen Programmteilen ständig neue Seiten abgewann.

Was vor allern imponierte, war die kraftvoll klare, wie in ständigem Dialog auf den Hörer bezogene Artikulation dieser Organistin. Bei ihr schwingt die Musik lebendig in sich, atmet, bewegt sich, kommt zur Ruhe und spricht, zu Beginn schon ersichtlich bei der Wiedergabe von Joseph Jongens „Sonata Eroica”, die ihrem Namen wahre Ehre machte. Die Musik des 1953 verstorbenen belgischen Komponisten changiert zwischen Chroma und recht gemäßigter Moderne, fügt sich aber mit ihrem reichen Wechsel zwischen reizvoller Akkordik, Rezitativik und brillanter Motorik zu einem opulenten Werk in bester französischer Orgeltradition, hörenswert nicht nur wegen seines virtuosen Einschlags.

Bachs ausgedetnte Choralpartita „Sei gegrüßet, Jesu gütig” führte nach dieser bombastischen Spätromantik und vor allem nach der Meditations-musik Messiaens wieder auf die Erde zurück.

Jede der elf Variationen erstand hier als eigenes Bild, klanglich sensibel aufgefächert, daß aus dem durchsichtigen polyphonen Geflecht ein klarer Sinnzusammenhang erwuchs. Der barocken Länge setzte die zwar in Neuseeland geborene, inzwischen aber zur Engländerin gewordene, sogar mit dem Titel „Lady Gillian” ausgezeichnete Künstlerin mit Maurice Duruflés „Scherzo” ein kleines Klangwunder zum Genießen dagegen. Sein impressionistisch schillerndes Laufwerk zwischen geheimnisvoller Akkordik bereitete mit seiner Art von Entrückung eigenes Vergnügen.

Aufschlußreich war zum Schluß der Einsatz der Organistin für James Healey Willan, den 1880 bei London geborenen Komponisten, der von 1913 an bis zu seinem Tod 1968 in Toronto wirkte und als die wichtigste Musikerpersönlichkeit im englischsprachigen Teil Kanadas gilt. Sein 1919 entstandener Zyklus Introduktion, Passacaglia and Fugue ist ein ganz nach klassischem Muster gefügtes Werk, dessen Darbietung durch die oft überraschenden Klangeffekte der souveränen Interpretin eine zusätzliche Aufwertung erfuhr.

Außergewöhnlich lang anhaltender Applaus bestätigte den vom Publikum sofort erkannten Rang dieses Konzerts. (es)

Die Rheinpfalz - Nr. 250, Dienstag, 28. Oktober 1997

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